Der Brief

von Elke Woltering • 2023

Bei einem der vielen Arbeitseinsätze beim alten Haarmeyer stießen wir beim Entrümpeln des Dachbodens – hinter meterhohen Sperrmüllbergen versteckt – auf eine alte Holztruhe. Diese Schatzkiste stellte sich beim Öffnen als Sammlung persönlicher Habseligkeiten von August Haarmeyer (dem älteren) und August Haarmeyer (dem jüngeren, + 2000) heraus. Alte Zeitschriften, Bücher, Notenblätter und Schulhefte kamen zum Vorschein. Ganz unten in der Kiste lag eine verrostete Blechkiste, so groß wie ein kleiner Schuhkarton. Dass in dieser Kiste eine zu Herzen gehende Geschichte verborgen lag, hat zu dem Zeitpunkt niemand geahnt.

Um die Kiste vor einer versehentlichen Entsorgung zu bewahren, nahm ich sie mit nach Hause, wo sie zunächst im Regal meines Arbeitszimmers ihren Platz fand. Erst an den langen Corona-Abenden fand ich die Muße, die gesammelten Schriftstücke genauer unter die Lupe zu nehmen. Mit einem ausgedruckten Sütterlin Alphabet machte ich mich eines Abends daran, die ersten Briefe Buchstabe für Buchstabe und Wort für Wort zu entziffern. Das Lesen ging nach einiger Zeit immer flüssiger voran, so dass ich bald heraus hatte, dass es sich bei den Briefen um Schreiben diverser Bittsteller aus der Verwandtschaft des älteren August Haarmeyer handelte. »Lieber Onkel August, …« so fingen fast alle Briefe an. »Könntest du uns noch einmal helfen …« Und das schien er getan zu haben, viele mit Feder und Tinte geschriebene Einzahlungsbelege lagen den Briefen bei. Bis zu diesem Zeitpunkt fand ich das Stöbern schlicht unterhaltsam. Einige Namen konnte ich mit Fotos und Details aus dem Stammbaum zusammen bringen, den ich mir bisher aus verschiedenen Quellen zusammen gepuzzelt hatte. Als ich allerdings am unteren Ende des Stapels angelangt war, schlug die Stimmung um. Ich hielt Briefe von Hans und Ilse Haarmeyer in der Hand, dem Neffen von August Haarmeyer und dessen Frau, wohnhaft in Dresden. 

Die Not, die aus diesen Briefen sprach, ging ans Herz. Ilses Brief aus dem Jahr 1936 beginnt wie die meisten anderen auch. »Lieber Onkel August …«. Sie schreibt, dass sie mit ihrer kleinen Tochter Christa allein zurecht kommen müsse, dass sie ohne Einkommen oder familiäre Unterstützung in der Wohnung in Dresden sitze, mit dem Gerichtsvollzieher quasi vor der Tür. »Du bist der Einzige, der Bescheid weiß», denn »die Familie darf nicht wissen, was mit Hans los ist.« Sie führt weiter ihre missliche Lage aus und bittet inständig um finanzielle Unterstützung, verbunden mit der flehentlichen Bitte, der Familie gegenüber Stillschweigen zu bewahren.

Zwei weitere Briefe von Ilse folgen, beide mit ähnlichem Inhalt. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was ihrem Mann Hans zugestoßen war und warum niemand etwas wissen durfte. Die Antwort darauf lieferte der letzte Brief von Hans selbst. Vier voll geschriebene Seiten, in denen Hans seinen Onkel in großer Verzweiflung um Hilfe für seine Frau und sein Kind bittet, weil er selbst ihnen in seiner Situation nicht helfen könne. Der Brief wurde abgeschickt aus dem Untersuchungsgefängnis Dresden, trug einen Stempel sowie den vollständigen Namen des Inhaftierten und seine Gefangenennummer. Das war es also. Hans Haarmeyer saß 1936/1937 für ca. 6 Monate in Dresden im Gefängnis.

Zunächst war ich sprachlos darüber, was ich da in der Hand hielt. Dann war meine Neugier geweckt. Warum hatte Hans Haarmeyer wohl im Gefängnis gesessen? Was hatte er sich zu Schulden kommen lassen, dass die Familie nichts davon wissen durfte? Ich tat das heute Naheliegendste und gab die Adresse des Gefängnisses in die Suchmaschine ein. Das Ergebnis, das google auswarf, habe ich nicht kommen sehen. Das ehemalige Untersuchungsgefängnis in der Georg-Bähr-Straße in Dresden ist inzwischen eine Gedenkstätte. Das Gefängnis diente nämlich in der Zeit des Nationalsozialismus (und später während der sowjetischen Besatzung und der DDR-Diktatur bis 1956) als Gericht, Gefängnis und zentrale Hinrichtungsstätte. Hier wurden vorrangig Gegner des Nazi-Regimes inhaftiert.

Mein nächster Schritt der Recherche war eine E-Mail an die Gedenkstätte mit der Frage, ob man dort etwas über Gefangene und deren Urteile in Erfahrung bringen könne. Frau Dr. Birgit Sack, Leiterin der Stiftung Sächsische Gedenkstätten/Gedenkstätte Münchner Platz Dresden war ausgesprochen hilfsbereit und bot ihre Unterstützung in der Recherche an, teilte aber mit, dass sämtliche Unterlagen zu Gerichtsverhandlungen 1945 von den Nationalsozialisten vernichtet worden waren. Sie empfahl zur weiteren Recherche das sächsische Hauptstaatsarchiv Dresden. Dort fand nach meiner Anfrage ein ebenfalls hilfsbereiter Mitarbeiter zwar weder staatsanwaltschaftliche Untersuchungsakten noch eine Haftakte, er schickte mir aber Scans aus einem Register für Vorverfahren aus dem Jahr 1936. Darin hatte er zwei Einträge zu Johannes Alois Haarmeyer gefunden. Volltreffer. 

Da Frau Dr. Sack zuvor ihre Unterstützung bei der Recherche angeboten hatte, entwickelte sich ein angeregter E-Mail Austausch über die Aufzeichnungen im Register. Gemeinsam entzifferten wir die wenigen, in Sütterlin geschriebenen Einträge und »entschlüsselten« neben dem Namen des Angeklagten in einer weiteren Spalte den Namen eines in Dresden praktizierenden Arztes. Meine neue Mitstreiterin steuerte nach weiterer Recherche die Information bei, dass es sich um einen jüdischen Arzt handelte, der Ende der 1930er Jahre nach Shanghai geflohen war. Um jedoch herauszufinden, worum es bei der Verurteilung genau ging und welche Rolle dieser Arzt dabei spielte, dafür waren die uns vorliegenden Informationen zu dünn.

An dieser Stelle war ich mir nicht sicher, wie ich weiter vorgehen sollte. Mich interessierte: Was war mit Hans und Ilse und ihrer Tochter Christa passiert? Hatte Onkel August helfen können? Wie ging ihre Geschichte weiter? Andererseits war mir klar, dass mich die Sache im Grunde überhaupt nichts anging. Wenn es noch lebende Nachfahren von Hans und Ilse gab, wühlte ich in deren, einer fremden Familiengeschichte herum. Andererseits: wenn es noch lebende Nachfahren gab, stünden ihnen die Briefe ihrer Eltern oder Großeltern dann nicht zu? Hätten sie dann nicht ein Interesse daran, diese persönlichen Aufzeichnungen zu lesen oder überhaupt davon zu wissen?

Beim Thema Ahnenforschung der Familie Haarmeyer war mir aufgefallen, dass sich viele Vornamen über die Generationen hinweg wiederholten. Also googelte ich die verschiedenen Namenskombinationen, um zu sehen, ob ich damit auf aktuelle Ergebnisse stieß. Ein Prof. Dr. Hans Haarmeyer wurde mir schnell als Suchresultat vorgeschlagen. Einige Klicks weiter fand ich einen E-Mail-Kontakt. Einen Versuch war es wert. Ich erklärte in meiner Mail, das ich mich beim ehemaligen Gasthaus Haarmeyer in Neuenkirchen ehrenamtlich engagierte, erzählte kurz von den Entwicklungen in Neuenkirchen und schrieb dann, dass ich im Rahmen einer Ahnenforschung auf einen Laurenz Haarmeyer sowie seinen Sohn Johannes Alois Haarmeyer gestoßen war. Das war ja nicht gelogen. Auf meine Frage, ob ich damit bei ihm an der richtigen Adresse sei, bekam ich eine halbe Stunde später bereits Antwort. »Sie sprechen mit Alois Johannes von meinem Vater.« Nächster Volltreffer. Herr Haarmeyer bot direkt seine Unterstützung zur Ahnenforschung an und verwies außerdem auf seine älteste Schwester Christa, 91 Jahre, die »sehr gute, lebendige und konkrete Erinnerungen an Neuenkirchen« habe. Christa! Das war der Name des Kindes aus den Briefen. Wie aufregend war das denn? Einige E-Mails gingen hin und her und schon bald verabredeten wir uns zu einem gemeinsamen Telefonat und später zu einem Video-Chat mit Hans (74) und seinen beiden Schwestern Christa (91) und Heidi (81). »Frau Woltering, verfügen Sie über WhatsApp?« Ich musste schmunzeln. Und wenige Tage später lernte ich auf meinem Küchensofa die drei Haarmeyer-Geschwister auf virtuellem Wege in einem Video-Gruppenchat kennen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und plauderten über Neuenkirchen, den alten Haarmeyer und ich freute mich riesig, als die drei vorschlugen, mich in Neuenkirchen besuchen zu kommen.

Hans Haarmeyer (rechts) 1929 als Buchbindergeselle in Dresden

Christa, Heidi und Hans kündigten sich zu einem dreitägigen Wochenendbesuch Anfang März an. Ich wollte den Besuch ungern weit hinaus schieben, da die Bauarbeiten beim alten Haarmeyer in Aussicht standen und ich ihnen das Haus noch im alten Zustand zeigen wollte. Die drei logierten im Sporthotel Ankum, wo wir uns zum gemeinsamen Abendessen am Freitag Abend verabredet hatten. Meine vorherigen Bedenken, worüber ich mich mit drei fremden Leuten einen Abend lang unterhalten sollte, verflogen gleich bei der Begrüßung. Die drei hatten bereits eine Runde Cocktails bestellt und warteten im Restaurant auf mich. Nach nur kurzem Smalltalk-Vorgeplänkel waren wir schon bald tief im Gespräch, das den ganzen Abend lang nicht abriss. Was hatte ich da für tolle Menschen kennen gelernt. Christa, die scheinbar still in der Ecke saß, aber mit spitzfindigem Humor die Gespräche kommentierte, Heidi, die auf ihre so herzliche und aufrichtige Art erzählte und Hans, der mit seinem weltgewandten Auftreten innerhalb der Geschwisterkonstellation aber der freche kleine Bruder blieb. Die Gespräche führten uns durch die Familiengeschichte und die einzelnen Lebensläufe hin zum aktuellen Weltgeschehen und wieder zu Erinnerungen und Anekdoten aus dem damaligen Neuenkirchen. Mal wurde es ganz bedächtig am Tisch und an anderer Stelle mussten wir so laut lachen, dass sich andere Gäste amüsiert zu uns umdrehten (z.B. als Christa und Heidi von der in ihrer Jugend unzureichenden Aufklärung und den damit einhergehenden Irrtümern erzählten). Was für ein toller Abend. Doch obwohl wir längst zum Du und unseren Vornamen übergegangen waren, sich vertrauensvolle Gespräche entwickelt hatten und die Geschwister sehr offen über die bewegte Familiengeschichte erzählt hatten, hatte ich mich den ganzen Abend über nicht getraut zu fragen: »Und was hat euren Vater eigentlich nach Dresden verschlagen?«

Ein Thema, dass ich mit leicht flauem Gefühl im Bauch wieder mit nach Hause nahm und auf den nächsten Tag verschob. Denn es war mir nach wie vor nicht klar, warum der Vater im Gefängnis gesessen hatte und ob die drei überhaupt davon wussten. Vielleicht war das ein Familiengeheimnis, über das man ungern sprach oder aber sie ahnten gar nichts davon und ich konfrontierte sie plötzlich mit den Briefen. Das flaue Gefühl blieb. 

Am Samstag kamen die Geschwister kurz nach dem Mittag beim alten Haarmeyer vorgefahren. Ulf Dieckmann als Gastgeber führte zunächst bei einem Rundgang durch das Haus und erzählte auf seine begeisternde Art über die Entwicklungen der letzten Jahre und die Pläne für die Zukunft. Christa schritt langsam durch die Räume und erzählte glasklar von ihren Erinnerungen aus Kindertagen. Auf dem Saal ließ sie es sich nicht nehmen, den Rollator zur Seite zu schieben und die Bühne zu erklimmen, um dort für ein Geschwister-Foto zu posieren. Dann ging es zurück in die Kneipe, meine Mutter und meine Schwester Petra waren ebenfalls zu Gast, und wir setzten uns an eine Kaffeetafel, die wir bis zum Abend nicht mehr verließen. Ein weit schweifendes Gespräch entspann sich, das an einige Themen des Vorabends anknüpfte, weiter in die Familiengeschichte eintauchte und viele Erinnerungen zu Tage brachte. Manchmal war die Vorkriegszeit Thema und ich suchte in Gedanken einen Anknüpfungspunkt, um auf Dresden zu sprechen zu kommen. Doch dann nahm das Gespräch durch einen Kommentar wieder eine andere Wendung und der Moment war verflogen. Mit fortschreitender Uhrzeit nahm meine Nervosität zu. Am Vorabend hatten wir uns in einem anderen Zusammenhang einmal über die Frage unterhalten, ob man alte Geschichten ruhen lassen sollte, um Erinnerungen an geliebte Menschen in Frieden zu lassen. Diese Frage trieb mich den ganzen Nachmittag um. Sollte ich einfach den Mund halten? Was, wenn die drei nichts von der Gefängnisstrafe wussten und sich dann herausstellte, dass ihr Vater wegen einer Straftat eingesessen hatte, über die man lieber nichts gewusst hätte. Was, wenn man die Erinnerung an ihn besser in Ruhe gelassen hätte?

Gegen Abend nahm Hans mir diese Entscheidung ab. In einer meiner ersten Mails hatte ich Briefe seiner Eltern angedeutet, um meine Kontaktaufnahme zu begründen. Und so legte er irgendwann die Hände zusammen, schaute mich an und sagte: »So, Elke, wollen wir mal? Du hast von Briefen unserer Eltern gesprochen.« Der Moment war da. Meine Knie unter dem Tisch bebten und meine Schwester warf mir einen wissenden Blick über den Tisch zu, als sie meine Hände zittern sah. Ich öffnete die Kiste und nahm ein paar Briefe heraus, die zunächst harmlos waren. Die Bittgesuche aus der Verwandtschaft, die den lieben Onkel August um Hilfe baten. Die Briefe von Hans und Ilse hatte ich in einen separaten Umschlag gesteckt. Ich nahm den ersten heraus und reichte ihn Heidi, die neben mir saß. Sie öffnete den Brief und sagte nach kurzer Pause: »Ja – Mamas Handschrift.« Sie las den Brief vor und kam nach einigen Zeilen ins Stocken, als ihre Stimme brach und Tränen flossen. Sie las den Satz »keiner soll wissen, was mit Hans los ist« und die Geschwister überlegten, ob das mit der Krankheit ihres Vaters zu tun hatte, von der sie vorher erzählt hatten. Ich wusste, dass sich der Satz auf etwas anderes bezog und begann zu ahnen, das sie nichts wussten. Hans nahm Heidi den Brief ab und las weiter. Er war gefasster und trug die Briefe seiner Mutter mit fester Stimme vor. Als letztes gab ich ihm den Brief seines Vaters. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich das nicht besser hatte einleiten können, dass ich nicht gewusst hatte, wie ich das Thema zur Sprache hatte bringen sollen. »Das ist der Brief eures Vaters – aus dem Untersuchungsgefängnis in Dresden.« Stille. Hans nahm den Brief und sagte nichts. Leise kam es aus der Ecke von Christa »Ja, da war mal was.« Heidi nickte. Christa ergänzte: »Der Papa hat damals zu gut von den Juden gesprochen. Das haben die falschen Leute gehört.« Wieder Stille. Hans schaute nach rechts zu Christa und sagte leise: »Davon habt ihr mir nie etwas gesagt.« Mein Herz sackte in die Hose, die anderen hielten die Köpfe gesenkt. Christa wusste, dass es um einen jüdischen Arzt gegangen war, über den der Vater sich in der Öffentlichkeit lobend geäußert hatte, daraufhin habe man ihn verhaftet. Was genau ihm juristisch zur Last gelegt worden war und wie lange er eingesessen hatte, wussten sie aber nicht (sie gingen von zwei Wochen aus). Hans las den Brief nun laut vor, seine Stimme verriet, dass seine Fassung ins Wanken geraten war. Aus dem Brief sprach die tiefe Verzweiflung des Vaters, der von der Einsamkeit in der Haft, der Hilflosigkeit und der großen Sorge um Frau und Kind schrieb, und wohl alle am Tisch hatten einen Kloß im Hals. Als Hans den Brief zu Ende vorgelesen hatte, berichtete ich von meiner Recherche im Staatsarchiv und legte Ausdrucke der Scans auf den Tisch, die ich aus Dresden erhalten hatte. Erneut Stille. Hans sammelte dann alle Schriftstücke auf einem Stapel, schwieg kurz und sagte dann: »Elke, was du da für uns gemacht hast, ist ganz, ganz toll.« Mir fiel ein gigantischer Stein vom Herzen. 

Nachdem der erste »Schock« verklungen war, kam das Gespräch wieder auf. Die drei Geschwister trugen Erinnerungen und Erkenntnisse zusammen. Heidi meinte, dass sie mit diesem neuen Wissen und der Perspektive ihrer Mutter vieles, was im Nachhinein in der Familie geschehen war oder wie sich Familienmitglieder verhalten hatten, nun besser einordnen und verstehen könne. Sie sagte: »Jetzt wird das alles rund.« Und erneut tauchten wir tief in die Geschichte der Familie Haarmeyer aus Osnabrück ein und Christa, Heidi und Hans ließen uns an ihren sehr persönlichen Gedanken teilhaben. 

Nach diesem so bewegenden Erlebnis waren alle am Tisch tief erschöpft, obwohl wir uns über Stunden nicht vom Tisch bewegt hatten. Christa, Heidi und Hans machten sich gegen Abend Richtung Hotel auf und mussten das Ganze wahrscheinlich auch erst einmal sacken lassen. So ging es auch Ulf, Petra und mir. Wir waren so voll von allem, dass wir den Wein öffneten, den Hans uns mitgebracht hatte (ein Wein vom Weingut Haarmeyer aus Californien – eine weitere Geschichte) und uns ein Gläschen einschenkten. So saßen wir noch weitere drei Stunden in der Kneipe, um gemeinsam diesen Nachmittag zu verdauen.

Am nächsten Vormittag hatten wir uns als Abschluss des Besuchs zum Frühschoppen beim alten Haarmeyer verabredet. Uns allen hatte es gut getan, eine Nacht über die Dinge zu schlafen – sofern wir in den Schlaf hatten kommen können. Alle Gespräche am Tisch kreisten um den vorherigen Tag, weitere Details aus der Familiengeschichte und Erkenntnisse, die über Nacht gekommen waren. Erst nachmittags, als alle anderen Frühschoppen-Besucher längst gegangen waren, kam die Zeit des Aufbruchs. Die drei Haarmeyer-Geschwister hatten noch einen weiten Heimweg vor sich. Und so endete der Besuch, der mit höflichem Händedruck angefangen hatte, mit herzlichen und festen Umarmungen und dem Versprechen, sich bald beim alten Haarmeyer in Neuenkirchen wiederzusehen. 

Eine Lebensreise nach Neuenkirchen und in den »alten Haarmeyer«

Prof. Dr. Hans Haarmeyer • 2023

Es fing im Januar 2023 eigentlich ganz harmlos an, als Elke Woltering (damals noch unbekannterweise) aufgrund meines von ihr gegoogelten Namens eine Mail an mich richtete, um sich danach zu erkundigen, ob mir vielleicht ein Alois Johannes Haarmeyer, Sohn des Buchbinders Laurenz Haarmeyer und seiner Frau Katharina bekannt sei und ich ihr bei einer Ahnenforschung im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit helfen könne. Man habe auf dem Dachboden des „alten Haarmeyer“ einige Unterlagen und persönliche Gegenstände wie Briefe gefunden, aus denen sich eine Familiengeschichte aber auch eine große Not ableiten lasse.... Da die Genannten mein Vater und meine Großeltern waren habe ich spontan geantwortet und meine Hilfe angeboten, nicht wissend, wie lang und wie tief diese Reise in die Vergangenheit und nach Neuenkirchen auch mein Leben verändern würde. Die nähere Beschäftigung mit der ehrenamtlichen Initiative aus Neuenkirchen, zum Erhalt des alten Gasthauses meines verstorbenen Onkels und dessen Umwidmung zu einem „neuen“ Dorftreff für alle Neuenkirchener beeindruckte mich tief und wenn sich schon „Fremde“ für meine Familiengeschichte interessierten, dann wollte ich auch meinen eigenen Beitrag dazu leisten, nicht wissend, wie dies auch meine eigene Sicht auf meine Familie verändern würde.

Die Erinnerungen an meine Kindheit in Neuenkirchen und Limbergen bestanden eigentlich nur noch in kleinen Erinnerungsfetzen und im Wesentlichen darin, dass ich noch recht lebhaft Bilder vor meinem inneren Auge hatte, dass wir mit meiner Mutter Mitte der 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf den Äckern meines Onkels August und meiner Tante Kartoffeln gesammelt hatten und diese mit nach Osnabrück nehmen durften – und es gab dann wunderbare Kartoffelklöße und „echte“ Reibekuchen in den Wochen danach. Unangenehm war mir lediglich in Erinnerung geblieben, dass während der Kartoffellese meine Tante mit einem strampelnden Huhn auf den Acker kam, den Kopf des Huhn auf einen Hauklotz platzierte und direkt neben mir das Huhn ins Jenseits und später dann auf den gedeckten Tisch und die Teller beförderte. 

Meine beiden Schwestern allerdings, Christa (91 Jahre) und Heidi (81 Jahre), hatten sehr viel intensivere Erinnerungen, denn meine Schwester Christa hatte schon vor und nach dem 2. Weltkrieg oft längere Zeit in Neuenkirchen und Limbergen verbracht und sehr lebhafte Erinnerungen an Personen und Ereignisse, ebenso wie meine Schwester Heidi – und dann bedurfte es nur wenig Überredungskunst und wir boten uns an, persönlich nach Neuenkirchen zu fahren, um vor Ort alles anzusehen, die Fundstücke zu sichten und den ehrenamtlichen Helfern auch mit alten Fotos und Geschichten zu helfen, das Familienpuzzle der in der ganzen Welt verstreuten Familie Haarmeyer fertig zu stellen. 

Gesagt, getan und schon Ende Februar/Anfang März fanden wir uns im schönen Sporthotel in Ankum wieder und lernten am ersten Abend Elke Woltering nun auch persönlich kennen.... es wurde ein sehr, sehr langer Abend mit vielen kleinen Geschichten, Fotos wurden getauscht und die Vorfreude auf das, was uns als Dachbodenfundstücke im alten Haarmeyer erwartete stieg mächtig an und so konnten wir es kaum erwarten am nächsten Morgen von Ankum in den „alten Haarmeyer“ nach Neuenkirchen zu fahren – und so standen dann am Vormittag des 04. März 2023 die Osnabrücker Haarmeyer´s vor dem „alten Haarmeyer“ in Neuenkirchen – dem neuen künftigen Dorftreffpunkt. 

Der Gang in den alten Haarmeyer war dann fast schon vertraut, denn nichts hatte sich im Gasthaus verändert seit mein Onkel August dort hinter der Theke stand – nun stand Ulf Diekmann dort, begrüßte uns als guter Gastgeber und begleitete uns auf einem Rundgang durch das riesige Gebäude bis hinein in die Tiefen des Kellers und erzählte mehr oder weniger beiläufig, dass eigentlich jede Familie in Neuenkirchen eine Verbindung zum „alten Haarmeyer“ habe, denn hier seien Hochzeiten, Geburtstage, Beerdigungen und andere Festlichkeiten begangen worden und jeder konnte irgendeine kleine Geschichte aus und um meinen Onkel August erzählen. Meine Schwester Heidi entdeckte den Souffleurkasten im großen Saal zu dem sie als Kind unter der Bühne gekrochen war und auch bei meiner Schwester Christa kamen die Erinnerungen Schritt für Schritt wieder. Dann standen wir in der großen Küche, in der meine Großmutter weiland Fleisch gebraten und herrliche Suppen gekocht hatte – und so ging es weiter in den alten Laden und kreuz und quer durchs ganze Haus – welch ein Schatz, der hier erhalten und den Menschen im Ort neu gewidmet werden soll und dann, ja dann kam sie, die blecherne Kiste vom Dachboden und mit der Kiste kamen Briefe meiner Eltern aus den 30er-Jahren in Dresden, eine Zeit an die ich überhaupt keine Erinnerungen hatte, weil ich erst 1948 geboren wurde. 

Welch eine schreckliche Not aus dieser Zeit in den Briefen zu erfahren war, welch eine Verzweiflung und welch eine Hilflosigkeit und dann lüfteten sich auch noch Geheimnisse, die meine Schwestern ihr Leben lang jede für sich bewahrt hatten, weil sie es meiner Mutter versprochen hatten. Zum ersten Mal erfuhr ich, dass ich noch eine Schwester gehabt hatte, die aber noch als Kind verstorben war, deren Foto ich aber kannte, nicht wissend, dass es meine Schwester gewesen ist und fand dann in dieser Geheimniskiste auch einen Brief meines Vaters aus dem Untersuchungsgefängnis in Dresden vom 01.12.1936, der mich tief erschütterte. Er war 1936 von einem reizenden Volksgenossen als „Judenfreund„ denunziert worden, weil er sich erlaubt hatte, den jüdischen Hausarzt der Familie öffentlich zu loben und wurde umgehend von der Straße weg verhaftet und Anfang Oktober 1936 ins Gefängnis gebracht. Meine Mutter war nun völlig allein mit meiner Schwester Christa, damals 5 Jahre alt, hatte Angst die Wohnung zu verlieren, kein Einkommen und wandte sich sehr schweren Herzens um Hilfe an Onkel August, der sie auch gewährte, wie er so vielen anderen in schweren Zeiten geholfen hatte... und so fand dann auch ein Paket aus Neuenkirchen mit Leberwurst und anderen Köstlichkeiten und ein wenig Geld seinen Weg nach Dresden. Wie stolz war ich, als ich all das las, auf meinen schon 1958 verstorbenen Vater für seinen Mut und wie glücklich war ich, zu erfahren, dass dem von ihm gelobten Arzt die Flucht aus Deutschland gelungen war und er nicht in einem KZ ums Leben gekommen ist... welch eine grauenhafte Zeit.... und  welch ein menschliches Elend, welch Not und Sorge um meine Schwester und meinen Vater kam aus diesen Briefen meiner Mutter und wie gut konnte ich nun verstehen, warum meine Eltern über diese ach so schwere Zeit nie gesprochen haben. Die Erniedrigungen, die Enttäuschungen, das Denunziantentum – alles längst vorbei und auf einmal doch so nah, dass mir fast das Herz brach. Elke Woltering hatte in der heutigen Gedenkstätte des berüchtigten Untersuchungsgefängnisses Dresden recherchiert und so fanden wir dann in den Unterlagen auch einen Auszug aus dem  Gefangenenbuch mit dem Namen meines Vaters, dem Tatvorwurf und der Zeit seiner Inhaftierung – und es wurde sehr still in der Gaststube, weil jeder mit dem, was nun auf dem Tisch lag versuchte zurecht zu kommen, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten kamen hoch, manche Träne floss aber am Ende war es für uns alle auch ein glücklicher Tag, denn nun wussten auch wir alles über die frühen schweren Jahre unserer Eltern. Christa konnte für die engagierten Aufbauhelfer noch einen Stammbaum beisteuern, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreichte und die Linien der Hamburger Haarmeyers kreuzten sich mit den Osnabrückern und den Neukirchnern. Welch ein bewegender Tag – am nächsten Vormittag dann ein Frühschoppen im „alten Haarmeyer“, die Gaststube war voll – auch voller Erinnerungen - und meine Schwester Christa sah Hannes Ostendorf wieder, mit dem sie als Kind viele Stunden verbracht hatte und die nun in der gemeinsamen Erinnerung wieder vereint schienen.....Es waren tief bewegende Tage der Erinnerung und zugleich auch in die Zukunft gerichtet, denn mit dem neuen Dorftreff im „alten Haarmeyer“ wird die Tradition dieses Hauses in die Neuzeit getragen und der Geist des Hauses möge alle erfüllen, die es künftig nutzen. Wir werden immer gerne wiederkommen und sind den Neuenkirchnern von Herzen dankbar, dass sie uns auf ihre Reise mitgenommen haben....unser tiefer Respekt gehört aber fraglos dem ehrenamtlichen Engagement der vielen Helfer von jung bis alt, die viel Freizeit dafür geopfert haben, um der Neuenkirchener Dorfgemeinschaft ein Stück von dem zurück zu geben oder zu erhalten, von dem schon Generationen vor ihnen gezehrt haben und noch heute beglückt erzählen. Dass ein Stück dieses Glücks auch künftig ein Zentrum im Herzen von Neuenkirchen im „alten Haarmeyer“ haben wird, trägt dann hoffentlich auch die nächsten Generationen dort, wo die Welt noch ganz in Ordnung zu sein scheint.....